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Stadt, Land, Flucht

Städte wachsen und immer mehr Menschen wollen in Metropolen leben. Gleichzeitig zieht es beispielsweise gerade junge Familien aufs Land. Es stellt sich deshalb mehr denn je die Frage: Wo wohnen wir in Zukunft? Und wie?

Lesedauer: 19 Minuten
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ass sie in ihrem Leben einmal mit Lehmputz arbeiten würde, hätte Rita Lassen selbst nicht gedacht. „Ich war Diplomkauffrau und lange als selbstständige Beraterin für Non-Profit-Organisationen tätig“, sagt sie. Jetzt ist sie Rentnerin, 70 Jahre alt, und schmiert auf einer Baustelle mitten in Niedersachen braunen Putz an die Wände. Ihr Ausflug ins Handwerk kommt nicht von ungefähr. Und es ist auch keine gewöhnliche Baustelle, auf der Lassen da anpackt. Es ist ein großes Abenteuer, in das sie und ihre Mitstreiter*innen sich gestürzt haben.

Aus der Stadt aufs Land – eine persönliche Geschichte

Alles begann mit einer verrückten Idee: „Komm, wir bauen ein Dorf“ – so steht es heute auch auf der Website von Hitzacker-Dorf. Ein Architekt, ein Baubiologe und ein Projektentwickler haben diesen Entschluss im Flüchtlingssommer 2015 gefasst. Sie wollten Geflüchteten eine Heimat bieten und ihnen mit einer Dorfgemeinschaft bei der Integration helfen. Drei Jahre später rückten die ersten Bagger an. Und heute stehen am Rand der 5.000-Einwohner-Stadt Hitzacker tatsächlich bereits zwölf Häuser. Knapp 100 Menschen sind schon eingezogen. Rita Lassen und ihre Lebensgefährtin gehören dazu. „Wir haben ein Wohnprojekt gesucht, wo wir uns sozial engagieren können“, erzählt die Rentnerin, die 40 Jahre in Hamburg gelebt hat. „In der Stadt haben wir nichts gefunden und waren froh, als wir von der Dorf-Aktion hörten.“

Auf der grünen Wiese entsteht ein Dorf: Willkommen in Hitzacker-Dorf
Eine der ersten Dorfbewohnerinnen, Rita Lassen (r.), und ihr Mitstreiter Matthias Metze

Aus der Großstadt aufs Dorf. Lassens Schritt klingt exotisch, tatsächlich aber ist dieser Trend nicht neu. Bereits seit 2014 ziehen laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) mehr Menschen aus den Städten hinaus als hinein. Corona könnte diese Entwicklung in Zukunft noch verstärken. Wie das Münchener ifo-Institut in einer Studie herausgefunden hat, planen 13 Prozent der Teilnehmer aus Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern, die Stadt in den kommenden zwölf Monaten zu verlassen. Fast die Hälfte der Befragten habe angegeben, dass die Corona-Pandemie dabei ihre Entscheidung beeinflusst habe.

Die Städte wachsen, aber auch das Land wird wieder beliebter

Auf den ersten Blick ist das irritierend, schließlich beklagen Experten und Politiker seit Jahren eine Landflucht – wonach immer mehr Menschen in die Städte ziehen und ganze Regionen veröden. Das Kuriose: Auch sie haben Recht, denn auf der anderen Seite wachsen die Metropolen ebenfalls immer weiter. In Folge der Corona-Pandemie zwar erstmals weniger stark, aber trotzdem ungebrochen und bis 2035 im Schnitt um etwa fünf Prozent, wie das GEWOS Institut für Stadt-, Regional- und Wohnforschung ausgerechnet hat. Ursache dafür ist eine durch Demografie und Zuwanderung gestiegene Bevölkerungszahl. Im Jahr 2035 sollen in Deutschland 83,7 Millionen Menschen leben. Das sind 0,7 Prozent mehr als heute.

"Wir haben ein Wohnprojekt gesucht, wo wir uns sozial engagieren können. Als wir von der Dorf-Aktion hörten, waren wir Feuer und Flamme." Rita Lassen, Mitgründerin und Bewohnerin von Hitzacker-Dorf
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Und irgendwo müssen sie wohnen. Aber wo? In den Städten wird der Platz immer knapper. Wohnungen sind immer schwieriger zu finden und werden immer teurer. Trotzdem drängen Menschen weiter in die Metropolen und kurbeln die Nachfrage an. Junge Familien dagegen ziehen sich ins Umland zurück, weil sie die teuren Preise für Mieten und Eigentum nicht mehr bezahlen können oder sich nach Ruhe und Abstand sehnen.

Gerade Großstädte werden immer größer

Beide Entwicklungen, so viel ist klar, werden unser Zusammenleben maßgeblich verändern. Und umso mehr drängen sich deshalb zwei Fragen auf: Wie Wohnen wir in Zukunft – und wo?

Für Prof. Dr. Christine Hannemann ist die Antwort eindeutig. Sie ist Soziologin, hält an der Universität in Stuttgart den einzigen Lehrstuhl für Wohnsoziologie in Deutschland und sagt: „Die Zukunft des Wohnens liegt in den Städten.“ Mit Blick auf die Zahlen ist diese These nicht allzu gewagt. Schon heute leben 77,5 Prozent der Deutschen in Ballungsräumen. Bis Mitte des Jahrhunderts sollen es sogar fast 85 Prozent sein.

Das liegt in erster Linie an den Metropolen. Berlin zum Beispiel soll laut GEWOS-Studie bis 2035 um 6,6 Prozent, Frankfurt um 6,2 Prozent oder Köln um 4,8 Prozent wachsen. München stoße mit 4,0 Prozent Wachstum langsam an Grenzen, heißt es in der Studie. „Trotz reger Neubautätigkeit kann das Wohnungsangebot nicht mit der extremen Nachfrage Schritt halten, sodass sich der Nachfragedruck weit in die Region hinein erstreckt“, schreiben die Autoren.

Das größte innerstädtische Bauprojekt Europas: Eine Visualisierung der Hafencity in Hamburg

Hamburg ist da einen großen Schritt weiter. Zwar hat auch die Hansestadt mit einem enormen Bevölkerungswachstum zu kämpfen: 2011 lebten dort 1,71 Millionen Menschen, zehn Jahre später waren es schon 1,85 Millionen. 2035 soll die zwei Millionen-Marke geknackt werden. Allerdings haben sich Senat und Wohnungswirtschaft frühzeitig zusammengeschlossen, um dem Wohnungsnotstand entgegenzuwirken. Schließlich soll jeder, der nach Hamburg kommt, auch eine bezahlbare Bleibe finden. Das sogenannte Bündnis für das Wohnen verfolgt seit 2016 das Ziel, jedes Jahr 10.000 Wohnungen zu genehmigen. Bisher wurde es immer erreicht.

„Wir dürfen die Hände nicht in den Schoss legen und müssen ein ambitioniertes Neubauprogramm mit allem Engagement weitertreiben.“ Franz-Josef Höing, Oberbaudirektor Hamburg
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Der Baukran hat deshalb einen festen Platz in Hamburgs Silhouette. Direkt an den Elbbrücken zum Beispiel begrüßen Einreisende gleich 42 dieser Exemplare. Sie errichten die Hafencity – das größte innerstädtische Bauprojekt Europas. Bis heute sind dort bereits mehr als 3.000 Wohnungen entstanden. Wenn 2030 alles fertig ist, sollen es 7.500 sein. „Wir dürfen die Hände nicht in den Schoss legen und müssen ein ambitioniertes Neubauprogramm mit allem Engagement weitertreiben“, sagt Hamburgs Oberbaudirektor Franz-Josef Höing und kann das auch beziffern: Bis Ende des Jahrzehnts sollen im Zentrum 70.000, in mittlerer Lage 40.000 und am Standrand 20.000 Wohnungen entstehen.

Arbeit, Arzt, Sport, Kultur: Alles erreichbar in 15 Minuten

Jan Störmer freut sich über diese Pläne. Er ist Architekt, seine Auftragsbücher sind voll. Eines seiner Projekte ist das „Roots“, das derzeit höchste Holz-Hochhaus in Deutschland. Auf einer Fläche von 31.000 Quadratmetern entsteht in der Hafencity Platz für Wohnen, Arbeiten, Kultur. „Durchmischung“, wie Störmer dazu sagt. Auch das ist so ein Trendbegriff für neue Wohnprojekte.

„Uns fehlen Bäume, keine frei stehenden Gebäude aus Beton und Stein, in denen gerade mal vier Leute wohnen.“ Prof. Dr. Christine Hannemann, Wohnsoziologin Universität Stuttgart
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Die Idee: Statt quer durch die City sollen Menschen zur Arbeit, zum Arzt, zum Sport, zu Kulturstätten nicht länger als 15 Minuten unterwegs sein. Das würde auch die aussterbenden Innenstädte wieder beleben. Störmers Idee: Auf viele Gebäude könnte man Stockwerke aus Holz draufsetzen und für Wohnraum nutzen, die Dächer zu Dachterrassen wandeln. Wer so viel Leben und mehr Grün um sich verspürt, käme auch mit weniger Platz zurecht, sagt Störmer. „Denn Platz ist nun mal begrenzt in der Stadt der Zukunft.“

In diese Kerbe schlägt auch Wohnsoziologin Hannemann – aus ökologischen Gründen. „Die Klimakrise ist so fortgeschritten, dass wir jeden Quadratmeter unbebaute Fläche schützen sollten“, sagt sie: „Uns fehlen Bäume, aber keine frei stehenden Gebäude aus Beton und Stein, in denen dann durchschnittlich gerade mal vier Leute wohnen.“ Sie sieht die Zukunft des Wohnens deshalb in Gemeinschaftsprojekten. Keine Einzelzellen mit gemeinsamen Dusch-WCs, wie sie sagt, sondern gemeinschaftliche Wohnprojekten in einer innenstadtnahen Lage mit anspruchsvoller Architektur.

Gemeinschaftsprojekte als Lösung für die Zukunft des Wohnens

Die Idee: Jeder hat seinen privaten Rückzugsbereich, aber Flächen wie Waschkeller, Werkstatt, Musikzimmer oder der Gemeinschaftsraum mit dem langen Esstisch werden geteilt. „Solche großen Tafeln werden nur ein paarmal im Jahr gebraucht, aber wir richten unseren Wohnraum allzu oft an diesen Ausnahmen aus“, sagt Hannemann. 25 Quadratmeter Wohnfläche hält die Soziologin für angemessen. Aktuell bewohnt jeder Mensch in Deutschland im Schnitt fast das Doppelte.

In der Stadt wird man sich das bald nicht mehr leisten können, glaubt Ralph Henger, Ökonom für Wohnungspolitik und Immobilienökonomie am IW in Köln. Vor zehn bis 15 Jahren habe man sich in den Metropolen noch vergrößern können. „Das ist heute quasi unmöglich“, sagt er und prognostiziert deshalb nicht nur einen Boom des Speckgürtels rund um die deutschen Großstädte, sondern auch einen wachsenden Speckgürtelkranz um die Metropolen herum.

Ruhe und Idylle auf dem Land: Eigenschaft, die den Menschen wichtiger werden.
Aber auch die Stadt wird immer grüner und dadurch lebenswerter; trotz weniger Platz.

Wie groß das Preisgefälle zwischen Stadt und eben jenem Umland ist, zeigt eine Arbeit des Portals Immowelt. Voraussetzung für den Vergleich war schnelles Internet auf dem Land. So hätten in der Kleinstadt Ellerau rund 30 Kilometer nördlich von Hamburg 98 Prozent der Haushalte Zugang zu einem Glasfaseranschluss. Doppelhaushälften würden dort bereits ab 223.000 Euro angeboten, während Einfamilienhaus in Hamburg im Mittel rund 549.000 Euro kosten. In München ist die Lage noch krasser. Dort kosten Häuser im Schnitt 1,18 Millionen Euro. In Emmerting, etwa hundert Kilometer östlich, werden sie ab 278.000 Euro gehandelt.

Kein Wunder, dass es Familien also verstärkt ins Umland zieht. „Jeder Trend hat eben auch einen Gegentrend“, sagt Christiane Varga, Trendforscherin am Zukunftsinstitut in Wien, die sich schon sehr lange mit dem Thema Wohnen in der Zukunft beschäftigt. Sie sieht aber nicht nur Corona oder die Preisentwicklung als Ursache dafür, von der Stadt aufs Land zu ziehen. Sondern auch eine emotionale Entwicklung. „Durch die Digitalisierung wird die Welt immer anonymer. Und weil auch das Stadtleben anonym geprägt ist, flüchten sich die Menschen auf dem Land in einen analogen Ausgleich“, sagt sie. Andersherum sei das übrigens genauso.

"Weil das Stadtleben anonym geprägt ist, flüchten sich die Menschen auf dem Land in einen analogen Ausgleich." Christiane Varga, Trendforscherin am Zukunftsinstitut in Wien
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Die Folgen sind spannend zu beobachten, denn durch den Wandel im Wohnen entsteht auch ein Wandel der klassischen Bilder: Stadtmensch und Dorfkind. „Es gibt sie immer weniger“, erklärt Varga. Denn mit den Stadtmenschen, die aufs Land gehen, kehrt dort ein ebenso neues Lebensgefühl ein wie durch die Dorfkinder, die in die Stadt ziehen.

Man könnte auch sagen: Dörfer werden städtischer, Städte dörflicher. „Man erkennt das zum Beispiel an den neuen Quartieren, die in den Städten entstehen“, sagt die Trendforscherin. „Hier entstehen ganz oft gleichzeitig auch Nachbarschaftsnetzwerke, die man sonst eher aus den Dörfern kennt.“ Und auch die Dörfer erfahren durch den Zuzug der Städter eine leichte, urbane Modernisierung. Eine Wechselwirkung, von der beide Wohnformen erheblich profitieren, sagt die Expertin.

Wie sich Stadt und Land in Zukunft verändern

Eine weitere Erkenntnis ihrer Arbeit: „Wohnen hat immer mehr mit Lebensabschnitten zu tun“, sagt Varga. Während man sich früher oftmals mit Mitte, Ende 20 für eine Wohnform entschieden und an dieser Entscheidung später nichts mehr verändert hätte, würde sich die Wohnsituation heute viel mehr der Lebensphase anpassen. Varga selber ist das beste Beispiel dafür. Die 36-Jährige ist in Ulm geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur zog es sie zum Studium nach München in eine WG. Von dort ging es in eine kleine Wohnung nach Wien, ehe sie mit ihrem Freund in ein größeres Loft zog. Sobald es an die Familienplanung geht, werde der nächste Umzug fällig, sagt sie. Fünf Lebensabschnitte, fünf Wohnformen.

Komm, wir bauen ein Dorf: Im niedersächsischen Wendland baut eine neue Dorfgemeinschaft das Örtchen Hitzacker-Dorf – mitten auf der grünen Wiese.

Rita Lassen ist es ähnlich ergangen. Sie ist in Dänemark geboren und hat in Hamburg gelebt und gearbeitet. Nun hat das Abenteuer Hitzacker begonnen. „Wir sind ein interkulturelles, soziales Mehrgenerationen-Dorf“, sagt sie. Interkulturell, weil Hitzacker Heimat geworden ist für Flüchtlinge und ihre Familien. Sozial, weil sie sich hier unter die Arme greifen. Zum Beispiel beim Hausbau. „Zehn bis 15 Prozent erledigen wir selber“, sagt Lassen, „und jeder bringt sich ein; selbst, wenn es nur darum geht, den Bautrupp mit Mittagessen zu versorgen.“

„Wir sind ein interkulturelles, soziales Mehrgenerationen-Dorf.“ Rita Lassen, Mitgründerin und Bewohnerin von Hitzacker-Dorf
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Und Mehrgenerationen-Dorf, das ist womöglich der spannendste Aspekt der Geschichte. Denn während sich zu Beginn eher ältere Leute für das Dorfprojekt interessiert hätten, würde der Schnitt durch die Dorfgemeinschaft nun tatsächlich durch mehrere Generationen reichen. „Rentner, fünf bis sechs Familien mit rund 20 Kindern, aber auch junge Leute sind dabei“, berichtet Lassen. Ein junger Mann, Anfang 20, sei zum Beispiel nach einem Praktikum dort geblieben. Mittlerweile lebt er mit seiner Freundin in dem jungen Ort – und packt mit an.

Wenn alles einmal fertig ist, sollen 300 Menschen in dem kleinen Dorf im Wendland leben. „Um den Dorfcharakter herzustellen, braucht es eine gewisse Größe“, sagt Lassen. Mit dem Leben auf dem Land hat sie sich nach 40 Jahren Großstadt bereits angefreundet. Die Ruhe, die Nähe zu Natur und das gute Gefühl, sich sozial zu engagieren, sagen ihr zu, erzählt sie. Wenn sie sich dennoch nach Anonymität sehne, würde sie einfach zurück nach Hamburg fahren. Die Wohnung in der Innenstadt haben sie und ihre Lebensgefährtin erst mal behalten, sagt Lassen: „Manchmal tut es eben doch ganz gut, im Großstadtdschungel abzutauchen.“

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